Explodierende Energiepreise!

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Welche Möglichkeiten der Kostenübernahme stehen im Sozialrecht zur Verfügung?

Eine kleine Arbeitshilfe

Bereits zum Jahresende 2021 waren die Energiepreise auf Rekordniveau und diesePreisentwicklung setzt sich im aktuellen Jahr dramatisch fort. Teure Energie ist in erster Linie dafür verantwortlich, dass die Inflationsrate in Deutschland im Juni 2022 gegenüber dem Vorjahr auf 7,6 % angestiegen ist. Ein weiterer Preisschub im Bereich Energie zeichnet sich im vierten Quartal 2022 ab. Zudem sind für nicht wenige Verbraucher*innen die Kosten für Haushaltsstrom exorbitant angestiegen, weil sie in Folge von einseitigen Kündigungen der Lieferverträge durch diverse Energieunternehmen in einen vielfach teureren Ersatzversorgungstarif gedrängt wurden.*) Aber auch andere Lebenshaltungskosten, wie etwa die Preise für Nahrungsmittel oder Kraftstoffe, unterliegen erheblichen Preissteigerungen.Haushalte mit niedrigen Einkommen und Sozialleistungsberechtigte, die nicht auf Erspartes zurückgreifen können, geraten so existenzielle Notlagen. Es drohen massive Zahlungsrückstände bis hin zur Energiesperren.

Die aus unserer Sicht wirksame Antwort auf die aktuellen Preissteigerungen wäre eine sofortige und dauerhafte Erhöhung der Sozialleistungen und die direkte Kopplung an die Inflation – etwa durch eine separate bedarfsdeckende Erstattung der Kosten für Haushaltsenergie im Rahmen der Kosten für Unterkunft und Heizung orientiert an einem auskömmlichen Energiekontingent. Neben anderen Maßnahmen halten wir als ersten Schritt eine monatliche Erhöhung des Eckregelsatzes auf mindestens 678 Euro sowie eine weitere Einmalzahlung von 300 Euro alsAusgleich für die stark gestiegenen Preise sowie die coronabedingten Mehrausgaben für dringend erforderlich (siehe dazu unser Positionspapier „Energieversorgung ist ein elementarer Bestandteil menschlicher Existenzsicherung“ vom 28.03.2022). Doch die Bundesregierung will eine dauerhafte Erhöhung der Soziallleistungen offensichtlich vermeiden und setzt auf „Entlastung“ der betroffenen Bevölkerung mit Hilfe von wenig zielgerichteten Subventionen und Einmalzahlungen.

Weil die Regierungsmaßnahmen nicht geeignet sind, Energiearmut dauerhaft zu bekämpfenbzw. dieser vorzubeugen, wollen wir einige Möglichkeiten aufzeigen, wie im bestehenden System der Sozialleistungen eine Übernahme von gestiegenen Energiekosten realisiert werden kann.

*) Hinweise zur rechtlichen Vorgehensweise in diesen Fällen finden sich im letzten Kapitel dieser Arbeitshilfe.

1. Heizkosten: höhere Abschlagszahlungen, Nachforderung am Ende des Abrechnungszeitraums und einmalige Brennstoffbeschaffung
 
SGB II/SGB XII:
Hier gilt, dass die „tatsächlichen“ Aufwendungen übernommen werden müssen, soweit sie einen „angemessenen“ Umfang nicht übersteigen. Nicht erstattungsfähig sind Heizkosten lediglich dann, wenn sie bei sachgerechter und wirtschaftlicher Beheizung der Höhe nach nicht erforderlich erscheinen. (Vgl. BSG vom 02.07.2009 – B 14 AS 36/08 R) Letzteres ist zum einen in Bezug auf die Heizkosten nach der Besonderheit des Einzelfalles zu prüfen, zum anderen kann eine Angemessenheit von Heizkosten nur an der verbrauchten Energiemenge, nicht jedoch an einem geforderten Energiepreis festgemacht werden (vgl. BSG vom 12.06.2013 – B 14 AS 60/12 R). Die kommunalen Träger, die für die Gewährung der Unterkunftskosten zuständig sind, werden künftig dafür Sorge zu tragen haben, dass die angemessenen Heizkosten in Höhe des tatsächlichen Preises des jeweiligen Energieträgers erstattet werden. Das betrifft sowohl die Übernahme der Abschlagszahlungen, der Nachforderung am Ende des Abrechnungszeitraums als auch die einmalige Beschaffung von Brennstoffen, wie z.B. die Befüllung des Öltanks.
 
Aber auch bei Heizenergiekosten, die aufgrund eines sehr hohen Energieverbrauchs entstanden sind, gilt aktuell, dass diese regelmäßig in tatsächlicher Höhe als angemessen zu bewerten sind (§ 67 Abs. 3 S. 1 SGB II, § 141 Abs. 3 SGB XII). Diese sogenannte Angemessenheitsfiktion gilt für Bewilligungszeiträume, die vor dem 31.12.2022 beginnen, wenn nicht bereits ein Kostensenkungsverfahren abgeschlossen wurde (§ 22 Abs. 1 S. 3 SGB II / § 35 Abs. 2 SGB XII).
 
Kinderzuschlag (KiZ):
Bei der Berechnung des Kinderzuschlages müssen bei den Heizkosten immer die tatsächlichen Vorauszahlungen zu Beginn des Bewilligungszeitraums berücksichtigt werden. Da der KiZim Voraus für sechs Monate bewilligt wird, können nach der Bewilligung (deutlich) erhöhte Vorauszahlungen auf Dauer oder eine Nachforderung für Heizenergie bzw. einmalige Kosten für Brennstoffbeschaffung im Monat der Fälligkeit Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II auslösen – der KiZ kann demnach mit Alg II/Sozialgeld aufgestockt werden. Hier ist darauf zu achten, dass der Antrag auf Leistungen jeweils in dem Monat gestellt werden muss, in dem die Kosten (erstmals) anfallen.
 
Wohngeld:
Um Wohngeldbeziehende wegen der gestiegenen Heizenergiekosten zu entlasten, hat die Bundesregierung bereits eine Einmalzahlung beschlossen, die zunächst im Juli ausgezahlt werden sollte. Die Auszahlung wird sich jedoch verzögern und abhängig von der Durchführung im jeweiligen Bundesland voraussichtlich im dritten Quartal 2022 erbracht. Sie soll ohne Antrag allen Haushalten gewährt werden, die vom Oktober 2021 bis März 2022 mindestens einen Monat Wohngeld bezogen haben. Der Zuschuss für einen Einpersonenhaushalt beträgt 270 Euro, für einen Zweipersonenhaushalt 350 Euro plus 70 Euro für jede weitere Person im Haushalt.

Dessen ungeachtet können eine höhere Heizkostennachforderung oder die Kosten für einmalige Brennstoffbeschaffungen (wie oben beim Kinderzuschlag beschrieben) über den Bezug von Leistungen nach dem SGB II und SGB XII kompensiert werden. D.h. der erhöhte Bedarf an Heizkosten löst im Monat der Fälligkeit Hilfebedürftigkeit aus. Der Weisung des Bundesministeriums des Inneren vom 04.08.2020 (Aktenzeichen: SW II 4 – 72307/2#29)können einmalige SGB-II/SGB -XII-Leistungen mit Wohngeld kombiniert werden, selbst wenn es sich hierbei um die Bedarfe der Kosten der Unterkunft und Heizung handelt. Lediglich dauerhafter SGB-II/SGB XII-Leistungsbezug würde demnach den Bezug von Wohngeld ausschließen.

Ausbildungsförderung:
Allen Berechtigten, die zwischen Oktober 2021 und März 2022 mindestens einen Monat lang BAföG bezogen haben, sollten im Juli wegen gestiegener Heizkosten zur Entlastung eine Einmalzahlung in Höhe von 230 Euro ausgezahlt bekommen. Diese Zahlung sollte erst nurauf Antrag erbracht werden, wird aber inzwischen ohne Antrag von Amts wegen gewährt (in den meisten Bundesländern ebenfalls mit Verspätung). Bei Änderung der Verhältnisse (Umzug, neue Bankverbindung…) sollte das BAföG-Amt informiert und der Anspruch geltend gemacht werden.

Für Auszubildende, Schüler*innen und Studierende mit Anspruch auf aufstockende SGB-II-Leistungen wäre analog zum KiZ- und Wohngeldbezug die Deckung einmaliger Bedarfe für Heizenergie über den Antrag auf SGB-II-Leistungen im Fälligkeitsmonat möglich.

Personen mit Einkünften knapp oberhalb des SGB-II-/SGBXII-Niveaus:
Auch hier können, wie unter dem den oben genannten vorrangigen Leistungen beschrieben,erhöhte Vorauszahlungen auf Dauer oder eine Nachforderung für Heizenergie bzw. einmalige Kosten für Brennstoffbeschaffung im Monat der Fälligkeit Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II/SGB XII auslösen. Auch hier ist darauf zu achten, dass der Antrag im Monat der Fälligkeit bzw. im Monat der Heizkostenerhöhung gestellt wird.

2. Haushaltsenergie: höhere Abschlagszahlungen für Strom oder Nachforderung am Ende des Abrechnungszeitraums
 
SGBII/SGB XII:
Solange es keine gesetzliche Regelung in Bezug auf Regelsatzerhöhung oder (hilfsweise) laufende Energiebeihilfen (in bedarfsdeckender Höhe) gibt, stehen nur die geläufigensozialrechtlichen Instrumente der darlehensweisen Kostenübernahme oder – eingeschränkt – der Härtefallregelung zur Verfügung: Zunächst sollte die Übernahme von Nachforderungen in Bereich der Haushaltsenergie als Darlehen nach § 24 Abs. 1 SGB II/§ 37 Abs. 1 SGB XII beantragt werden. Ein solches Darlehen wird in den Folgemonaten mit 10 Prozent der Regelleistung der Darlehensnehmerin bzw. des Darlehensnehmers mit der zustehenden Leistung aufgerechnet. Im SGB XII beträgt die Aufrechnungshöhe bis zu 5 Prozent des Eckregelsatzes.
 
Wurde das Darlehen gewährt, kann im SGB II eine Umwandlung des Darlehens in eine Beihilfe nach § 44 SGB II beantragt werden, weil die Rückforderung „angesichts außergewöhnlicher Preissteigerungen bei einer derart gewichtigen Ausgabeposition“ eine unbillige Härte darstellt. (BVerfG in seinem Beschluss vom 23.07.2014, 1 BvL10/12, Rn. 144; die vom BVerfG angemahnte außerplanmäßige Erhöhung der Regelbedarfe wurde von der Bundesregierung bisher nicht umgesetzt). Im SGB XII wäre in dieser Konstellation nur ein Antrag auf dauerhafte Stundung möglich (Aufrechnung mit bis zu 5 % des RB, § 37 Abs. 4 SGB XII; analog der BMAS-Weisung für die Kostenübernahme digitale Endgeräte für den Distanzunterricht vom Februar 2021).
 
Bei einer höheren einmaligen Nachforderung für Haushaltsenergie wäre im SGB II auch ein Antrag auf eine Beihilfe nach § 21 Abs. 6 SGB II (Härtefallmehrbedarf) möglich, wenn ein Darlehen nach 24 Abs. 1 SGB II wegen der Höhe der Nachforderung „ausnahmsweise nichtzumutbar“ ist. Bei laufenden Abschlagszahlungen für Haushaltsenergie, die sehr stark von den im Regelsatz vorgesehenen Strombedarfen abweichenden, wäre ebenfalls ein Antrag auf eine solche Härtefallbeihilfe nach § 21 Abs. 6 SGB II möglich, wobei bei laufenden Bedarfen die Anforderungen zur Gewährung des Härtefallmehrbedarfs geringer sind als bei einmaligen Bedarfen.Im SGB XII gibt es keine entsprechende Regelung für einmalige Härtefallmehrbedarfe. Daher können lediglich erheblich gestiegene Abschlagszahlungen über eine flexible Erhöhung des Regelsatzes nach § 27a Abs. 4 SGB XII realisiert werden. Inwieweit hier aus verfassungsrechtlichen Erwägungen auch im SGB XII einmalige Bedarfe über die abweichende Festsetzung der Regelsätze zu realisieren sind, wird lediglich mittelfristig über den Klageweg vor den Sozialgerichten geklärt werden können. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sowohl die Jobcenter als auch die Sozialämter die Härtefallregelung bzw. die flexible Erhöhung der Regelsätze in Bezug auf die aktuell galoppierenden Energiepreise nicht anwenden werden und dass Leistungsberechtigte bereit sein müssen, solche Ansprüche bei Bedarf vor Gericht durchzusetzen.
 
Nichtleistungsberechtigte nach dem SGB II/SGB XII mit geringen Einkünften über dem Leistungsniveau bzw. Beziehende von KiZ, Wohngeld oder Ausbildungsförderungsleistungen:
Auch hier ist es denkbar, dass durch erhöhte einmalige oder laufende Bedarfe für Haushaltsenergie Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II/SGB XII ausgelöst wird. Voraussetzung dafür wäre jedoch wie oben beschrieben die Anerkennung der erhöhten Stromkosten im Rahmen der Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II bzw. über eine abweichende Festsetzung des Regesatzes nach § 27a Abs. 4 SGB XII. Weil wir damit rechnen,dass weder Jobcenter noch Sozialämter aktuell solche Bedarfe anerkennen werden, kann auch in dieser Konstellation davon ausgegangen werden, dass etwaige Ansprüche vor Gericht durgesetzt werden müssen.
 
3. Personen, die nach plötzlichen Kündigungen der Strom- oder Gasverträge in teure Ersatzversorgungstarife gedrängt wurden
 
Die Verbraucherzentrale hält sowohl die kurzfristige außerordentliche Kündigung der Lieferverträge durch diverse Energiefirmen als auch die deutlich teure Eingruppierung in Ersatzversorgungs- bzw. Neukundentarife durch Grundversorger nach geltendem Recht für unzulässig. Im ersten Fall wurde gegen ein Unternehmen eine Musterklage eingereicht, bezüglich der unzulässigen Eingruppierung wurden drei Grundversorgungsunternehmen gerichtlich abgemahnt.
 
Wie betroffene Energiekund*innen sich gegen solche unzulässigen Kündigungen oder überteuerte Neukundentarife wehren können, hat die Verbraucherzentrale auf ihrer Webseite zusammengestellt. Dort wird auch über den Stand der Gerichtsverfahren informiert. (Quelle: verbraucherzentrale.de)
 
 
Positionen des Bündnisses „AufRecht bestehen“:
 
 

 

Stand: 19.08.2022

Das Bündnis „AufRecht bestehen“ wird von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), „ARBEITSLOS – NICHT WEHRLOS“ Wolfsburg (ANW), Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen (BAG PLESA), Gruppe Gnadenlos Gerecht Hannover, Gewerkschaftliche Arbeitslosengruppe im DGB-KV Bonn/Rhein-Sieg, Frankfurter Arbeitslosenzentrum e.V. (FALZ), Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), Tacheles e.V. Wuppertal, ver.di Bundeserwerbslosenausschuss, Widerspruch e.V. Bielefeld sowie vielen örtlichen Bündnissen und Initiativen getragen.